Wie es um den Antisemitismus in Deutschland aktuell steht, versucht uns die Mehrheitsgesellschaft tagtäglich auf Social Media und in Talkshows zu erklären. Mit jedem Nah-Ost-Konflikt hat das Thema in unseren Medien gesamtgesellschaftlich Hochkonjunktur. Beispielsweise, wenn die Figur des Deutschland, personifiziert in Markus Lanz, einer Hanna Veiler (als Präsidentin der jüdischen Studierendenunion), erläutert, wie er Antisemitismus wahrnimmt, wenn sie sich nicht instrumentalisieren lässt.
Die Zusammensetzung dieser Shows erweckt den Eindruck, als gäbe es ein rechtes jüdisches Spektrum, das Israel-apologetisch agiert und ein linkes jüdisches Spektrum, das Israel als ein imperialistisches Projekt identifiziert. Zwischen Deborah Feldmann, Michael Wolffsohn, Emilia Roig, Judith Butler, Jewish Voice For Peace, zwischen „From the river to the sea“ und „bring them home“.
Tatsächlich ist jüdische Identität, genauso wie eine vermeintliche Repräsentation des Judentums, viel nuancierter als uns der polarisierte Diskurs vermittelt.
Für mich als jüdische, queere*, israelische Person, die sich als progressiv und links verortet, bedeutet das, Vorwürfe und Forderungen an Israel wahr- und ernstzunehmen. Es bedeutet, kritischen Beiträgen zuzustimmen, bis in einem Satz Begriffe wie „Apartheid“, „Genozid an Palästinenser*innen“ fallen und dem Staat Israels das Existenzrecht abgesprochen wird.
Für mich bedeutet es, dass einige JETZT meine Israel-kritischen Beiträge unterstützen, während Monate lange Berichte über die Demonstrationen für eine wehrhafte Demokratie in Israel ignoriert wurden.
Für mich bedeutet es, feministische Idole zu sehen, die Vergewaltigungen jüdischer Frauen durch die Hamas als Kollateralschaden betrachten oder leugnen. Für mich bedeutet es, dass sich LGBTIQ*- Räume für Israel-Solidarität schließen, obwohl NGOs wie die israelische LGBTIQ* Organisation Aguda gegen die Politik der eigenen Regierung protestierten. Ob Klimabewegungen oder Menschenrechtler*innen, deren Arbeit identitätsstiftend war – ihre universal wirkenden Grundsätze werden im schwarzen Loch „Israel und Judentum“ eingesogen.
Als Verband jüdischer Studierender in Hessen vertreten wir junge Menschen zwischen 18-35 Jahren. Viele leben in einer Aufbruchsstimmung. Das ist das, was wir mit „gepackten Koffern“ meinen. Sie würden gerne in eine bedingungslos jüdisch-solidarische Umgebung umsiedeln. Aber wohin? Viele, auch hier in Deutschland, leben in einer Stimmung der Angst. Sie haben in der Zeit seit dem Angriffskrieg Freundschaften verloren, vermissen Solidaritätsbekundungen von Verbündeten. Viele sind Nachkommen von Kontingentgeflüchteten, haben Großeltern, die in Armut leben oder Holocaust Erfahrungen in der Biografie.
Heute erleben sie Ausgrenzungen auf dem Schulhof, auf dem Campus von Universitäten und Kunstakademien, und erleben Antisemitismus in der Kultur, in rechten Rock und Rap Musik, im Sportverein.
Antisemitismus begleitet uns im urbanen Raum, wenn wir an heruntergerissenen Plakaten von Entführten vorbeilaufen, „free Palestine“ schmierereien an Gedenkstätten, Davidsterne an Klingelschildern mit vermeintlich jüdischen Nachnamen sehen.
Unabhängig vom Bezug zum Judentum, der politischen Einstellung und dem eigenen Engagement, waren Juden schon vor dem 07.10.2023 dem Ausschluss aufgrund ihrer intersektionalen Betroffenheiten ausgesetzt.
Wir beobachten, wie Antisemitismus keine Frage des politischen Milieus mehr ist, sondern sich längst, in den Deckmantel des Antizionismus eingehüllt, in jeden Lebensbereich ausgeweitet hat.
Wählen wir spd, sind wir die Kommunisten, wählen wir fdp, sind wir Kapitalisten, wählen wir links dann sind wir selbsthassend, wählen wir cdu sind wir tokens, die als nächstes dran sind.
In einem Wechselspiel wird von Juden gefordert, sich zu Israel zu positionieren und dann wieder, sich zu distanzieren, wenn die Position nicht die eigene widerspiegelt. Pro-Israelische Medien stecken uns in Opferrollen, instrumentalisieren unseren Israel-Bezug, erfragen das Verhältnis zu muslimischen Freunden*innen. Anti-Israelische Medien negieren unsere Israel-Bezüge, relativieren die Hamas und konstruieren Bündnisse, wo keine sind. Es wird jüdischen Stimmen, wie jvp oder Deborah feldmann, die breiteste Bühne gegeben, obwohl sie nicht repräsentativ für die deutsche jüdische Gesellschaft sind. Wir haben oft erlebt, wie diese über die Rücken von gewählten jüdischen Vertreter*innen hinweg zur dämonisierung Israels und der Deligitimierung jüdischer Sicherheitsansprüche missbraucht wurden.
Das ist Resultat aus sehr vielen nicht aufgearbeiteten Problemen in Deutschland- die Reduktion der jüdischen Diskurse auf den Holocaust, Schuldabwehr, Schlussstrich Debatten ohne Entnazifizierung, das Schweigen zu Israel aufgrund von Angst vor Antisemitismus, das Schweigen zu Antisemitismus in muslimischen Communities aufgrund der Angst vor Rassismus.
Wir werden in einen Side-ism hineingezwungen, in dem nicht unsere Gräben offenbart werden, sondern die einer westlichen Gesellschaft, die an einem längst verlorenen moralischen Kompass festhält.
Max Czollek hat getweeted, dass für ihn seit dem 07.10. Ideologie weniger Wert hätte als Menschlichkeit. Und ich fühle das. Weil Antisemitismus, wie auch Rassismus und andere Formen des gruppenbezogenen Hasses keine Ideologien sind und vor keiner Ideologie halt machen.
Antifaschismus bedeutet aktuell, Betroffenen von Antisemitismus auf allen Seiten entgegenzutreten und dabei vor der eigenen Tür zu kehren. Er bedeutet, Betroffenen zuzuhören, die Befreiung der über 240 Geiseln zu fordern und Empathie gegenüber den Opfern des Krieges zu äußern!